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WienTourismus

«Das hält keine Metropole auf Dauer aus»

Der Wiener Tourismusdirektor Norbert Kettner im Interview mit Michael Csoklich.

Mit

Wie viele andere Metropolen auch wurde Wien stark von der Corona-Krise getroffen: Nach 17,6 Millionen Gästenächtigungen im Vorjahr sollen es heuer gerade einmal fünf Millionen werden. Dabei spielt nicht zuletzt der deutlich reduzierte Flugverkehr eine Rolle – immerhin sind in den letzten Jahren rund die Hälfte der Wien-Touristen mit dem Flugzeug angereist. Zur traurigen Gegenwart aber auch zu den Zukunftsplänen «nach Corona» hat aeroTELEGRAPH mit Norbert Kettner, Geschäftsführer von WienTourismus, geredet.

Herr Kettner, so viele haben vor Corona über zu viele Touristen geklagt. Jetzt fehlen sie. Sind alle eines Besseren belehrt worden?

Viele ja, obwohl wir die wirklichen Auswirkungen erst sehen werden. Wenn z.B. die Kündigungswellen auf andere Branchen überschwappen werden. Es gibt immer noch welche, die sagen, wie schön der Himmel ohne Flugzeuge ist, es werden aber weniger.

Sie meinen die, die die Abwesenheit von Touristen schön finden?

Ja. Wir hatten ja in Wien nie eine Diskussion über Exzess-Tourismus mit Alkoholexzessen wie beispielsweise in anderen Städten. In Wien gab es die Diskussion, dass es punktuell zu dicht war. Nehmen wir das Beispiel Kreuzfahrtschiffe: Da haben viele ihre Passagiere bereits um 8 Uhr in der Früh mit dem Bus in die Stadt gebracht und in Großgruppen durch die Stadt geführt. Um diese Zeit ist die Fußgängerzone keine Fußgängerzone, sondern eine Lieferzone, und es hat Situationen gegeben, wo das einfach zu viel war. Das war uns bewusst, da waren wir in Gesprächen mit den Reedereien und wir werden das weiter beobachten.

Gibt es derzeit im Wiener Tourismus irgendetwas, was funktioniert?

Die Rahmenbedingungen sind katastrophal, wir verlieren momentan tausende Jobs und wir verlieren Betriebe. Aber für die größte Krise seit dem 2. Weltkrieg funktionieren wir als Branche ziemlich gut. Alle sind gefasst, alle haben sich den kühlen Kopf und die ruhige Hand bewahrt. Das ist ein wichtiges Asset, um später aus der Krise gestärkt herauszukommen.

Der Flugverkehr ist extrem wichtig für Wien. Wie lange kann es Wien und die Tourismusindustrie ohne nennenswerte Flugverbindungen aushalten?

Wir halten es ja jetzt schon nicht durch und in Wirklichkeit hält das keine Metropole auf Dauer aus. Niemand hätte jemals geglaubt, dass die Sommerdestinationen jemals höhere Frequenzen haben werden als die Metropolen. Wir sind extrem abhängig von einem funktionierenden Flugverkehr.

Lässt sich Bedeutung des Flugverkehrs in Zahlen gießen?

In normalen Zeiten sind etwa 50 Prozent der Gäste mit dem Flugzeug gekommen, Kongressteilnehmer sogar zu 76 Prozent. Bei Letzteren sind Direktverbindungen sehr wichtig. Und diese Frage beschäftigt mich besonders: Wird Wien dieses Niveau an Langstreckenflügen auch nach der Krise haben, und wann? Eine Metropole muss mit allen Kontinenten verbunden sein und ich habe die Sorge, dass wir da in die zweite oder dritte Ebene abgleiten. Und auch für den Wirtschaftsstandort wäre es eine Katastrophe, in eine Provinzialisierung anzugleiten.

Sehen Sie dafür eine reale Gefahr?

Vergessen wir nicht, was in Ungarn und Tschechien passiert ist mit dem Wegfall des nationalen Carriers, und die Auswirkungen dessen auf Budapest und Prag. Wien hat davon profitiert und hatte vor der Krise schon doppelt so viele Passagiere wie Prag, Brünn und Budapest gemeinsam. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass wir bei der Erholung nicht in der ersten Reihe sein könnten.

Haben wir da eine Verkehrsministerin mit der richtigen Einstellung zum Flugverkehr?

Da bemerke ich einigen Pragmatismus, auch bei der Erkenntnis, dass der Flughafen nicht nur für Wien eine Bedeutung hat, sondern für die ganze Ostregion und die Region im Osten Österreichs. Die Devise «small is beautiful» halte ich für eine Stadt für gefährlich.

Thema Reisebeschränkungen. Wie kann man denn dieses Problem in den Griff bekommen?

Ich habe große Sorge, dass die USA und China rasch und undogmatisch aus der Krise herauskommen und Europa in Kleinstaaterei hängen bleibt. Wir haben von Anfang an gesagt, dass die Pandemie nichts mit Milieus, Staatsbürgerschaften oder Regionen zu tun hat. Sie passiert überall. Im März wurde der europäische Binnenraum gekappt, seit dem Sommer häufen sich die vielen individuellen Reisewarnungen. Wie man diese Trümmer des kaputten Binnenmarkts und des gegenseitigen Misstrauens als kleine Exportnation wieder gut machen will, ist mir momentan unklar. Ich wünsche mir den Binnenmarkt zurück und ich wünsche mir ein einheitliches europäisches Reiseregime. Weg vom Reisepass und vom Wohnort, hin zu klaren Regeln, unter welchen individuellen Voraussetzungen ich reisen darf.

Testen statt Quarantäne sagen die Fluglinien. Sie auch? 

Das kommt dem sehr nahe, ja.

Ist es nicht verwegen, auf eine EU-weite Regelung zu setzen?

Ja, das ist verwegen, dazu stehe ich aber. Die Giftampullen, die von Anfang an gespritzt worden sind, bekommt man nicht mehr weg. Das ist das Problem.

Die Kündigungen beim Hotel Sacher sind in aller Munde, waren ein Weckruf. Welche Betriebe sind denn akut gefährdet?

Weltklassebetriebe wie das Sacher werden die Krise überstehen. Wir haben aber schon ganz am Anfang der Pandemie im März eine Umfrage gemacht. Da kam heraus, dass etwa 20 Prozent der rund 400 Hotels und Pensionen in Wien überlegt haben, den Betrieb dauerhaft zu schließen. Ich fürchte, diese Zahl ist nach wie vor valide. Was mir noch mehr Sorgen macht ist, dass wir das gut ausgebildete, qualifizierte Personal verlieren, das man nur schwer ersetzen kann.

Von vielen Mitarbeitern sprechen Sie da?

Das lässt sich im Detail nicht sagen. Insgesamt haben wir in Wien in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft 116.000 Jobs, davon in der Hotellerie etwa 50.000.

Wovon hängt es ab, ob jemand zusperrt? Der Kategorie, der Lage, dem Angebot, Teil einer Kette?

Von der Eigenkapitaldecke, der Finanzsituation, und ob der Betrieb im Eigentum steht oder gepachtet oder gemietet ist. Viele Betriebe haben einen Polster nach den Boom-Jahren, die werden noch ein bisschen überleben. Im Winter wird es aber nicht besser werden, da muss man realistisch sein. Ohne Gäste aus Großbritannien, USA, China und Japan kann man in Europa kein Fünf-Sterne-Hotel führen. Wichtig ist deshalb der Fixkostenzuschuss 2.

Würde es helfen, die Preise zu senken?

Das passiert ja schon, wir hatten im August im Schnitt ein Minus von 18 Prozent gegenüber 2019. Und im Herbst, wenn der Kongresstourismus wegfällt, rechne ich mit weiteren Preissenkungen – in der aktuellen Situation verständlich, aber keine nachhaltige Strategie.

Hat Wien nicht zu viele Hotelbetten?

Nein! Wir hatten in den vergangenen Jahren insgesamt immer die höchste Jahresauslastung in ganz Österreich. Im August 2019 hatten wir beispielsweise eine Bettenauslastung von 73 Prozent, bei der Zimmerauslastung lagen wir damit bei etwa 94 Prozent.

Viele Hotels sind gerade in Bau, braucht Wien diese jetzt wirklich?

Man könnte sagen, das ist der zynische Faktor an der Krise. Wir werden deswegen nicht mehr Bettenkapazität haben als vor der Krise, weil es auch Marktaustritte geben wird. Ich bin aber optimistisch, dass wir qualitativ durch die neuen Projekte gestärkt aus der Krise herausgehen werden.

17,6 Millionen Gästenächtigungen 2019, 5 Millionen sollen es heuer werden. Hält das Wien aus?

Wir werden es als Gesamtdestination aushalten, aber es wird Kollateralschäden geben. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auf den Erhalt des Wiener Flairs konzentrieren. Vor der Krise war Wien eine der attraktivsten Städte der Welt, das muss auch nach der Krise so sein. Das typisch Wienerische muss erhalten bleiben und es muss uns klar sein, dass Kultur und Musik für Österreich die einzigen globalen Imagefaktoren sind. Diese Institutionen müssen überleben, koste es, was es wolle. Da hängt viel mehr daran für die Nation, als man sich vorstellen kann.

Im Sommer ist ja der Inlandstourismus sehr propagiert worden. Wird oder kann er Wien retten, vor allem im Winter?

Nein. Es war richtig, den Inlandstourismus zu fördern, aber er wird uns nicht retten. Das ist der große Irrtum, der im Sommer ausgerufen worden ist. Jetzt erkennt man, dass die Situation, die wir in Wien schon das ganze Jahr haben, auch auf den Skitourismus übergreifen wird. Wien ist sehr diversifiziert, hat unter anderem rund 20 Prozent deutsche Touristen, in anderen Bundesländern und besonders beim Skitourismus ist der Anteil aber sehr viel höher. Zusätzlich spielt Tourismus gesamtwirtschaftlich gesehen etwa in Tirol eine viel gewichtigere Rolle als in Wien, weshalb auch die Auswirkungen viel dramatischer sein können. Besonders, wenn die Reisewarnungen aufrecht bleiben.

Was kann denn eine Tourismusorganisation wie ihre überhaupt tun, sind sie nicht machtlos oder ohnmächtig?

Ohnmächtig sind wir überhaupt nicht. Wir sind durchgehend mit all unseren Märkten in Kontakt. Wir haben TV-Formate entwickelt, wie den Vienna Show Case, wo wir z.B. live Führungen im Kunsthistorischen Museum gemacht haben. Wir bleiben im Gespräch, wir bieten der Branche gerade in Zeiten der Krise eine Vielzahl an Informationen, Serviceleistungen und Austauschplattformen, das wird auch anerkannt. Zugleich war es wichtig, dass Events wie die Wiener Festwochen, die Eröffnung der Staatsoper oder die Salzburger Festspiele stattgefunden haben. Das hat uns geholfen weltweit zu zeigen, wie lebendig Österreich trotz Corona ist.

Gibt es etwas wo Sie sagen, durch Corona wird im WienTourismus nachher etwas substantiell anders sein?

Was uns beschäftigt ist die Frage, ob unsere Logik, nach Ländern und Regionen zu arbeiten, nachher noch eine sinnvolle ist. Wie kann die perfekte Marktbearbeitung aussehen? Genaues offenbart sich noch nicht, aber eines steht fest: Wir werden auf jeden Fall noch internationaler werden.

Also Gäste aus noch mehr Ländern ansprechen?

Ja, und da kommt die Luftfahrtindustrie ins Spiel. Wir wollen und werden noch intensiver mit Fluglinien zusammenarbeiten, denn der Flugverkehr wird gerade in Bezug auf Fernmärkte nichts von seiner Bedeutung einbüßen.