Weiße Flecken kennt die Weltkarte moderner Reisender mit dicker Brieftasche kaum mehr. Was darf‘s sein: Weltraumflug? Nordpol per Atomeisbrecher? Privatinsel? Alles machbar. Alles weit weg. Alles bekannt. Eine Terra incognita aber wartet vor unserer Haustür: Serbien.
Dieses Land wird touristisch gern übersehen, obwohl es keine zwei Flugstunden von Zürich entfernt ist. Das Desinteresse ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass Serbien Ende des 20. Jahrhunderts Europas politischer Paria wurde und 1999 als «Rest-Jugoslawien» zum ersten Kriegsgegner der NATO. Von den jugoslawischen 260.000 Quadratkilometern auf ein Drittel geschrumpft, grenzt Serbien an Kroatien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Montenegro, Nord-Mazedonien sowie Bosnien-Herzegowina.
Was uns verblüfft? Auf Hunderten von Buskilometern durch Serbien nur eine Hand voll Solardächer zu sehen, von Sonnenfarmen und Windparks ganz zu schweigen. Poser kreuzen ausschließlich in getunten Verbrennern aus München, Ingolstadt oder Sindelfingen durch die Städte. Surrende Stromer? Meist Fehlanzeige!
Sehr lange sucht man in Serbien vegane Lokale oder dezidiert vegetarische Gerichte auf den Speisekarten, nach dem Motto: «Wer kein Fleisch isst, isst Gulasch oder Cevapcici!» Auf gewisse Weise erscheint Serbien wie ein entspanntes, hier und da politisch unkorrektes Nostalgie-Reservat. Keine Frage: Damit ist das Schnappatmungs-Potenzial für mitteleuropäische Öko-Bohèmiens, Oat-Milk-Veganer und Tesla fahrende Lauchbourgeois hoch. Zeit, dem Land mal den Pulks zu messen …
Ein Straßencafé reiht sich ans andere unter dem schattenspendenden Blätterdach der Promeniermeile Obilicev Venac. Darüber Fassaden im Stil der Moderne und Neoklassik. Rechts und links der Fußgängerzone Kneza Mihaila hingegen bestimmen Designer-Shops und viel Mode «made in Serbia» das Bild.
Viele sehenswerte Neorenaissance- und Jugendstilbauten flankieren die Straße, die über einen Kilometer hinweg vom Platz der Republik bis zur Festung mit dem Kalemegdan-Park führt. Dort ist ein kleines osmanisches Mausoleum, ein großes Kriegsmuseum und die Siegessäule mit der Figur des nackten Pobednik, entworfen vom berühmten Bildhauer Ivan Meštrović und 1928 enthüllt. Schöner noch ist der Blick nach unten auf den Zusammenfluss von Donau und Save.
Belgrad hat sich im letzten Jahrzehnt einen Ruf als Partymetropole erarbeitet. Dabei spielen die Clubs, Lokale und Partyboote auf Donau und Save die Hauptrolle. Clubs wie «Splav River» und «HotMess» heizen Feierlustigen auf dem Wasser kräftig ein. Apropos einheizen: Monatelange Proteste gegen Korruption machen Präsident Alexandar Vučić zu schaffen. Mit der Ernennung von Đjuro Macut zum neuen Ministerpräsidenten hat sich der Widerstand nicht gelegt.
Zu den herausragenden Brutalismus-Bauten Belgrads gehören die drei Rudo-Türme des Eastern Gate, der 115 Meter hohe Genex-Doppelturm (auch Kula Geneks). Der ragt seit 1980 am Western Gate direkt neben dem Autoput in die Höhe: Ein Wohngebäude mit 30 Stockwerken und ein Bürogebäude mit 26 Stockwerken sind durch eine Brücke im 26. Stock verbunden. Wichtig sind auch die sage und schreibe 72 Wohnblöcke des Blokovi in Novi Beograd mit Wohnungen für 200.000 Menschen.
Im Nightlife-Viertel Skadarlija sorgt in milden Nächten der abendliche Schaulauf für Kurzweil. Auffällig viele Männer tragen auffällig mächtige Bizepspakete und Nackenmuskeln spazieren. An ihrer Seite staksen rausgeputzte Damen auf hohen Absätzen und mit sehr knappem Textil geradezu artistisch übers Kopfsteinpflaster. Die Luft ist schwer von Parfüms und Zigaretten, die Stimmung prächtig.
Allzu lang wird die Nacht nicht. Unsere Gruppe hatte mittags die «Belgrade Urban Distillery» besucht. Dort gibt es Rakija-Pairing zum Menü: Zu jedem der fünf Teller einen anderen kräftigen, doppelt destillierten Obstbrand, auch den legendären Pflaumenbrand Šljivovica und einen Aprikosenbrand (Kajsijevača).
Zwischen den Bergen Ovcar und Kablar, 230 Kilometer südlich von Novi Sad, mäandert die Westliche Morava in sich ineinander schmiegenden Schleifen vor sich hin. Am Fluss liegt das Manastir Nikolje, eines von zehn Klöstern in der Schlucht. Äbtissin Elisabeth führt durch ihr kleines Reich. Anschließend hilft sie dem Kreislauf mit Türkischem Kaffee auf die Touren und tröstet mit mildem, aber kräftigen Rakija-Schnaps aus eigener Produktion über den strömenden Regen hinweg. Der ließ die geplante Radtour ins Wasser fallen. Dafür bleibt mehr Zeit für die schönen Kirchen-Fresken aus dem Ende des 16. Jahrhunderts.
Die Wolkenbrüche vermasseln uns den besten Blick auf den mäandernden Fluss: «Der 15 Kilometer lange MTB-Rundkurs führt ohne große Steigungen hoch zum Gipfel des Kablar. Von dort hat man den besten Blick auf die Schleifen der Morava, die nur von denen des Uvac übertroffen werden», so Dejan Zvikovic. Er muss es wissen, denn er ist für die 150 Kilometer Bike- und Hike-Trails der umliegenden Berge zuständig.
Das 2004 erbaute «Küstendorf» ist kein Küstendorf, sondern liegt über 250 Kilometer vom nächsten Strand. Seine Straßen sind nach Regisseuren, Filmstars, Kosmonauten oder Fußballern wie Federico Fellini und Diego Maradona benannt. Das Kino heißt Stanley Kubrick Theatre, das Sportzentrum «Damned Yard» zu Ehren des jugoslawischen Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić.
Das Filmfestival «Internacionalni festival filma Kustendorf» findet im Winter statt und kennt keinen Roten Teppich. Dennoch kommen ab und an Stars wie Johnny Depp, Jim Jarmusch oder Isabelle Huppert vorbei. Nicht im Zug natürlich, sondern via Helikopter oder Limo.
Wie Kusturica auf den Namen «Küstendorf» kam, weiß der Teufel. In Anspielung an seinen in Serbien gängigen Spitznamen Kusta? Oder auch nur, weil der Regisseur ein wenig verrückt ist? Das bleibt vorerst ein Rätsel. Und nicht das einzige, vor das Serbien seine Besucher stellt.
Anreise
Von Frankfurt nach Belgrad (1h 50 Min) mit Lufthansa, von Zürich (1h 40 Min) nach Belgrad mit Swiss.
Weitere Direktflüge:
Hotel-Tipps
Die Zahl der Sterne ist nicht aussagekräftig. In der Regel kann man getrost einen bis zwei Sterne abziehen.
Mama Shelter
Keine 200 Meter von Belgrads Festung und direkt an der Fußgängerzone. Bunt, verrückt, kreativ, wie es die Marke verspricht. Tolles Rooftop-Restaurant. DZ ab 130 Euro. mamashelter.com/belgrade
Tourist Resort Mecavnik/Küstendorf
Umfasst die Holzhäuser im Küstendorf wie ein stilvolles, großes Vollholzhotel weiter oben am Berg. DZ/HP ab 110 Euro. mecavnik.info
Offizielle Website der Nationalen Tourismusorganisation von Serbien: serbia.travel
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