Letzte Aktualisierung: um 18:18 Uhr

Law is in the Air

Virtuell und doch real – das Phänomen virtuelle Airlines

Von Lübeck Air über Rhein-Neckar Air bis hin zu Green Airlines: Die Anzahl virtueller Airlines wächst. Für Reisende kaum erkennbar, unterscheiden sie sich doch erheblich von ihren traditionellen Wettbewerbern - auch in rechtlicher Hinsicht.

Virtuelle Airlines stellen ein recht junges Phänomen im Bereich der Luftfahrt dar. Zuletzt sind gleich mehrere von ihnen an den Start gegangen, einige auch abgehoben, wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg. Im Kern handelt es sich um – trotz aller Unterschiede im Detail – Unternehmungen, die zwar unter eigenem Namen und Markenauftritt gewerbliche Flugdienste vermarkten, ohne diese jedoch selbst auszuführen.

Die eigentliche Flugausführung überlassen sie vollumfänglich Dritten, in der Regel auf ACMI (Aircraft, Crew, Maintenance, Insurance) beziehungsweise Charter spezialisierten Luftfahrtunternehmen. Insoweit besteht eine gewisse Ähnlichkeit zum branchenüblichen Wet-Leasing, allerdings mit einem signifikanten Unterschied: In rechtlicher Hinsicht setzt ein solches – siehe Art. 2 Nr. 25 der für Luftverkehrsdienste innerhalb der Europäischen Union maßgeblichen Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 – eine Vereinbarung zwischen Luftfahrtunternehmen voraus.

Großer rechtlicher Unterschied Wet-Lease

Jenes wiederum wird durch Art. 2 Nr. 10 derselben Verordnung definiert als «ein Unternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung […]», während eine solche – so Art. 2 Nr. 1 VO (EG) Nr. 1008/2008 – zu verstehen sein soll als «Genehmigung, die einem Unternehmen von der zuständigen Genehmigungsbehörde erteilt wird und das Unternehmen je nach Angaben in der Genehmigung berechtigt, Flugdienste zu erbringen».

Eine Genehmigung, die in der EU nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1008/2008 erforderlich ist, um Personen, Post und/oder Fracht im gewerblichen Flugverkehr befördern zu dürfe, besitzt eine virtuelle Airline allerdings gerade nicht. Tatsächlich erfüllt sie auch nicht die der Sicherheit und Zuverlässigkeit im Flugverkehr dienenden Genehmigungsvoraussetzungen: So ist sie weder – wie von Art. 4 lit. b) VO (EG) Nr. 1008/2008 vorausgesetzt – Inhaber eines vom Mitgliedsstaat ihres Unternehmenssitzes erteilten gültigen Luftverkehrsbetreiberzeugnisses (Airline Operator License, oder: AOC) noch verfügt sie – wie Art. 4 Lit. c) VO (EG) Nr. 1008/2008 festlegt – über ein oder mehrere Luftfahrzeuge, sei es durch Eigentum oder auf Grundlage einer Dry-Lease Vereinbarung.

Reines Vertriebsunternehmen

Vielmehr ist die virtuelle Airline ein reines Vertriebsunternehmen, das zwar bestimmte Flugverbindungen auflegt, Produkt- und Servicestandards bestimmt und den Verkauf von Beförderungsscheinen sowie hierzu korrespondierende Kundenkommunikation wahrnimmt, aber die tatsächliche Beförderung durch einen Partner, ein seinerseits betriebsgenehmigtes Luftfahrtunternehmen vornehmen lässt.

Vorteile vermag ein solches Geschäftsmodell durchaus mit sich zu bringen: So sind die hohen, vor allem finanziellen Hürden zur Erlangung eines AOC und daran anknüpfend einer Betriebsgenehmigung nicht zu nehmen. Zudem wird es nicht erforderlich, eigenes Fluggerät anzuschaffen oder auch nur im Wege des Dry-Leasing längerfristig anzumieten. Damit fällt auch der personelle, administrative und organisatorische Aufwand deutlich geringer aus.

Ideal für Start-ups

Die eigentliche Kernaufgabe der Unternehmung liegt im Bereich des Marketings und Vertriebs, während die operative Verantwortlichkeit für durchzuführende Flugdienste vollumfänglich ausgegliedert wird, einschließlich der kostenintensiven Wartung, Instandhaltung und Versicherung von Luftfahrzeugen.

Deshalb eignet sich das Konstrukt der virtuellen Airline vor allem für Start-Ups, somit für Unternehmungen, die am Beginn ihrer Geschäftstätigkeit stehen, da das erforderliche Anfangskapital bedeutend niedriger als im Falle der Neugründung eines klassischen Luftfahrtunternehmens ist und sich außerdem das Investitionsrisiko einfacher steuern lässt, weil beispielsweise Flugkapazitäten nur blockweise, das heißt in gewissem Umfang angemietet werden, ohne dass das wirtschaftliche Erfordernis einer durchgehenden Vollauslastung bestünde.

Oft als Übergangslösung

Stattdessen lässt sich auf sich ändernde Bedarfe und steigende bzw. sinkende Nachfrage relativ variabel und kurzfristig reagieren durch das Hinzukaufen weiterer beziehungsweise Auflösen bestehender Kontingente, die Erhöhung bzw. Verringerung von Frequenzen oder den Einsatz größeren beziehungsweise kleineren Fluggeräts. Nicht zuletzt lassen sich virtuelle Airlines vergleichsweise schnell errichten.

Deshalb wird das Modell durchaus auch als Übergangslösung bis zur Erlangung einer eigenen Betriebsgenehmigung genutzt. Dadurch kann die Geschäftstätigkeit schon aufgenommen werden, bevor die selbstverantwortliche Durchführung eigener Flugdienste zulässig wird.

Blick auf die Flugnummer

Für Passagiere wird all das und insbesondere der Umstand, dass ihr Ticketverkäufer – jedenfalls rechtlich betrachtet – kein Luftfahrtunternehmen ist, regelmäßig nicht auf den ersten Blick erkennbar sein. Einen Hinweis darauf gibt allerdings die jeweilige Flugnummer: Da eine eine virtuelle Airline schließlich nicht über einen sogenannten Airline Designator Code verfügt, werden die Flüge unter Nummern des jeweiligen Partners, das heißt des tatsächlich befördernden Luftfahrtunternehmens durchgeführt.

Überdies besteht – im Geltungsbereich der Europäischen Union – eine ausdrückliche rechtliche Verpflichtung, Fluggäste über den Operating Carrier zu informieren. So sieht hier Art. 11 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 vor, dass «der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr unabhängig vom genutzten Buchungsweg die Fluggäste bei der Buchung über die Identität der/des ausführenden Luftfahrtunternehmen(s)» unterrichten muss. In der Praxis erfolgt dies regelmäßig mittels eines entsprechenden Hinweises (operated by beziehungsweise durchgeführt durch in Verbindung mit dem Namen des jeweiligen Beförderers) in der Buchungsmaske sowie der Reisebestätigung. Steht die Identität zum Buchungszeitpunkt noch nicht fest, so ist die Information gem. Art. 11 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 2111/2005 nachzuholen, sobald dies der Fall ist.

Wer haftet bei Unregelmäßigkeiten?

Von rechtlicher Bedeutung und praktischer Relevanz ist das Zusammenspiel zwischen virtueller Airline und flugausführendem Luftfahrtunternehmen vor allem im Zuge von Störungen im Beförderungsvorgang. Das gilt insbesondere für die Frage nach dem richtigen Haftungsadressaten in passagierrechtlichen Angelegenheiten. Hier sind einige Besonderheiten zu beachten.

Im Bereich der Passagierrechte nimmt die Verordnung (EG) Nr. 261/2004, die sogenannte Fluggastrechteverordnung eine herausragende Stellung ein. Innerhalb ihres Anwendungsbereichs enthält sie Mindestrechte für Fluggäste in Fällen der Annullierung, Nichtbeförderung gegen ihren Willen sowie Verspätung. Den unterschiedlichen Ansprüchen, die von der Verpflegung und Hotelunterbringung über Ticketkostenerstattungen und Ersatzbeförderungen bis hin zur Zahlung einer pauschalen Kompensationsleistung reichen, ist gemein, dass sie sich stets und ausdrücklich gegen das jeweils «ausführende Luftfahrtunternehmen» richten.

Wegweisender Fall

Für Zwecke der Verordnung definiert deren Art. 2 Buchst. a) ein solches Luftfahrtunternehmen als «ein Lufttransportunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung». Deren Vorliegen wiederum richtet sich nach der – siehe oben – VO (EG) Nr. 1008/2008 oder dem insoweit maßgeblichen Recht eines Drittstaates. Daraus folgt, dass eine virtuelle Airline kein Haftungsadressat für fluggastrechtliche Ansprüche ist, da sie – wie dargestellt – gerade nicht über jene Genehmigung verfügt.

In der Entscheidung Breyer/Sundair hat dies auch der Europäische Gerichtshof (Beschluss vom 6.12.2018 – C292/18) klargestellt, wonach «ein Unternehmen, das […] zu dem für die Durchführung der geplanten Flüge vorgesehenen Zeitpunkt nicht über eine Betriebsgenehmigung verfügte […] nicht unter die Verordnung insgesamt fallen» kann. Die Ratio dahinter: Ohne Betriebsgenehmigung darf ein Unternehmen im gewerblichen Luftverkehr schließlich keine Flüge durchführen.

Haftung nach Montrealer Abkommen

Völlig schutzlos – so der EuGH – seien von einer Flugunregelmäßigkeit Betroffene aber nicht, da sie nicht gehindert seien, «gegebenenfalls auf einer anderen rechtlichen Grundlage eine Entschädigung zu erhalten», zum Beispiel nach Pauschalreiserecht .Anderes gilt indes für Ansprüche nach dem Montrealer Übereinkommen, dem maßgeblichen Haftungsregime für grenzübergreifende Luftbeförderungen, das aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 2027/92 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 889/2002 auch auf Luftbeförderungen innerhalb eines EU Mitgliedsstaates Anwendung findet. Im Kern regelt das Abkommen die Haftung für Schäden die während eines Fluges an Personen, Reisegepäck und/oder Fracht enrstehen.

Dabei richten sich diese Ansprüche dem Wortlaut nach stets gegen den «Luftfrachtführer», der allerdings nicht notwendigerweise ein Luftfahrtunternehmen sein muss. Vielmehr kann Haftungsadressat ein jeder sein, der einem anderen aufgrund eines vertraglichen Versprechens die Beförderung auf dem Luftwege schuldet. Schließlich macht schon Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Montrealer Übereinkommens klar, dass für die Eröffnung seines Anwendungsbereichs ausreichend ist, dass die jeweilige Beförderung «durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt erfolgt». Es bleibt somit unerheblich, ob der vertraglich Verpflichtete die Beförderung selbst ausführt oder – wie im Falle virtueller Airlines – Dritte mit der Flugausführung beauftragt.

Haftung nach Montrealer Abkommen

Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen der VO (EG) Nr. 261/2004, die ausschließlich auf das formale Kriterium einer gültigen Betriebsgenehmigung abstellt, und dem Montrealer Übereinkommen, das sich nach dem der Beförderung zugrundeliegenden Vertragsverhältnis richtet, ohne dass es auf die Eigenschaft als Luftfahrtunternehmen ankäme. Damit kann also Luftfrachtführer sein, wer nicht zugleich Luftfahrtunternehmen ist. Für virtuelle Airlines folgt daraus, dass sie im Rahmen des Montrealer Übereinkommens durchaus verpflichtet sein können, auch wenn sie sich eines Unterfrachtführers, das heißt eines tatsächlich flugausführenden Partners bedienen, solange sie nur einen Luftbeförderungsvertrag geschlossen und aufgrund dessen zur Beförderung verpflichtet sind.

Dies gilt allerdings mit der Einschränkung, dass dem nur bei grenzübergreifenden Verbindungen so ist und nicht auch im Falle von rein innerstaatlichem Flugverkehr eines EU Mitgliedsstaates. Denn die oben genannte Ausweitung auf binnenstaatliche Flugdienste gilt aufgrund der VO (EG) Nr. 2027/97 in der Fassung der VO (EG) Nr. 889/2002 ausdrücklich nur für «Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft», somit abermals nur für Lufttransportunternehmen mit gültiger Betriebsgenehmigung.

Moritz G. Heile ist freier Kolumnist von aeroTELEGRAPH. Er ist Rechtsanwalt und Gründer der Kanzlei GOODVICE in Berlin. Er berät und vertritt schwerpunktmäßig Unternehmen der Luftfahrtbranche und unterrichtet als Lehrbeauftragter für Luftverkehrsrecht an der Universität zu Köln. Die Meinung der freien Kolumnisten muss nicht mit der der Redaktion übereinstimmen.