Letzte Aktualisierung: um 21:01 Uhr

Interview mit Mark Hiller, Recaro

«Es könnte separate Bereiche geben für Familien mit Kindern»

Mark Hiller ist Chef des deutschen Sitzherstellers Recaro. Im Interview spricht er darüber, wie Corona das Geschäft verändert, und über den Sitz und die Kabine der Zukunft.

Beim Thema Flugzeugsitze geht es derzeit oft um das Thema Corona-Schutz. Es gibt etliche Konzepte, um Reisende auf Kopfhöhe voneinander abzuschirmen. Was bietet Recaro?
Mark Hiller*: Wir haben einen kompletten Baukasten zum Thema konzipiert, Prototypen entwickelt und den Airlines virtuell vorgestellt. Dazu gehören zum Beispiel Abschirmungen. Es laufen gerade auch Tests, um herauszufinden, was unsere antibakteriellen Beschichtungen, die auch einige antivirale Eigenschaften haben, gegen das neue Coronavirus leisten.


Was steckt noch in Ihrem Corona-Baukasten?
Wenn Airlines Mittelsitze freilassen wollen, bieten wir Lösungen, um die zusätzliche Fläche zu nutzen. Das können Elemente sein, die dem Passagier etwas bringen, wie Staufächer. Wir bieten aber auch Möglichkeiten, dort Fracht unterzubringen und so zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Unter dem Strich interessieren sich die Fluggesellschaften für Lösungen, die wenig Gewicht haben und einfach ein- und wieder auszubauen sind.

Wie hart trifft die Corona-Krise das Geschäft von Recaro?
Wir sehen derzeit einen Rückgang von etwa 60 Prozent beim Umsatz gegenüber dem Vorjahr. Allerdings muss man sehen, dass wir 2018 und 2019 jeweils um 20 Prozent gewachsen sind. Und wir haben uns bereits im vergangenen Herbst, also vor Corona, auf einen Rückgang 25 Prozent eingestellt.

Wir haben weniger als 15 Prozent des Personals abgebaut.

Warum das?
Es gab bereits viele Hinweise, dass 2020 ein schwierigeres Jahr wird, etwa durch Handelsstreit, Zölle und die Boeing 737 Max. Und wirklich große Auftragseingänge mit dreistelligen Flugzeugzahlen haben Airbus und Boeing auch kaum erhalten. Zudem wollen wir generell so flexibel sein, dass wir Schwankungen von 25 Prozent nach oben und unten ohne große Probleme bewältigen können.

Wie erreichen Sie das?
Wir haben unsere Wertschöpfung fokussiert auf Entwicklung und Endmontage der Sitze und stellen relativ wenig Teile selber her. Zudem nutzen wir Arbeitszeitkonten und haben an verschiedenen Stellen auch auf Leiharbeitskräfte und Befristungen gesetzt.

Streichen Sie aufgrund von Corona dennoch Stellen?
Wir haben weniger als 15 Prozent des Personals abgebaut und dieser Abbau hat nur an unseren internationalen Standorten stattgefunden. In Deutschland haben wir das Ziel, durch Kurzarbeit und auch durch Beiträge der Mitarbeiter mit der bestehenden Belegschaft durch die Krise zu kommen.

Effizienzsteigerung kann man durch leichtere Sitze erreichen.

Erhalten Sie derzeit überhaupt neue Aufträge?
Wir haben drei Geschäftsfehler: Die Erstausrüstung bei Airbus und Boeing, Linefit genannt. Die Nachrüstung von bestehenden Flotten, Retrofit genannt. Und Modifikationen, Ersatzteile und Sitz-Überarbeitungen. Was das Linefit angeht, läuft das Geschäft sehr verhalten, da die Airlines gerade kaum Flugzeuge bestellten. Einige größere Aufträge haben wir dennoch gewonnen, können aber noch keine Details verraten.

Wie sieht es beim Retrofit aus?
Es gibt einige Airlines, die die aktuelle Liegezeit der Flugzeuge nutzen, um Umrüstungen durchzuführen. Aber natürlich läuft auch dabei das Geschäft auf niedrigerem Niveau.

Können Sie uns hier Auftraggeber verraten?
Leider nicht. Aber es gibt zum Beispiel Airlines, die Staatshilfe erhalten haben mit bestimmten Bedingungen zur Nachhaltigkeit und zur Effizienz der Flotte. Und eine Effizienzsteigerung kann man etwa durch leichtere Sitze erreichen.

Wir rechnen damit, dass sich der Schwerpunkt vom Linefit zum Retrofit verschiebt.

Bleibt das Geschäft mit Ersatzteilen, Modifikationen und Sitz-Überarbeitungen.
Das kam zum Erliegen, sobald die Flugzeuge am Boden standen. Wir bekommen mittlerweile schon wieder Aufträge, stehen aber immer noch bei einem Minus von rund 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allerdings gehen wir davon aus, dass wir den Tiefpunkt überwunden haben und es in diesem Bereich in den kommenden Wochen am stärksten aufwärts geht.

Rechnen Sie mit einer Konsolidierung bei den Zulieferern?
Ja, wenn Unterstützungsmaßnahmen auslaufen oder ausgeschöpft sind, wird sich zeigen, wer wie dicke Polster und wie viel Durchhaltevermögen besitzt. Besonders bei Firmen, die relativ schwach in die Krise gegangen sind, erwarten wir, dass es zu Insolvenzen kommt, zu Geschäftsaufgaben oder zu Konsolidierungen. Gerade in Deutschland gibt viele kleine und mittelständische Lieferanten, die wenig diversifiziert sind, eins zu eins an den Produktionsraten der Flugzeughersteller hängen und wenig Möglichkeiten haben, etwas zu kompensieren.

Aber auch Recaro leidet doch darunter, wenn weniger Flugzeuge gebaut werden.
Unsere Kunden sind hauptsächlich die Airlines. Daher bedeutet eine Ratensteigerung bei Airbus und Boeing zwar mehr Optionen für uns, aber nicht zwingend auch mehr Geschäft. Denn die Fluggesellschaften können sich ja auch für einen unserer Wettbewerber entscheiden. Jetzt sinken die Raten, aber die Frage ist: Um welche Kunden geht es? Zudem können wir Rückgänge über das Nachrüstgeschäft kompensieren. In den vergangenen Jahren hat die Erstausstattung den größeren Teil des Geschäfts ausgemacht. Jetzt geht es darum, bestehende Flotten effizienter zu machen und zu harmonisieren. Daher rechnen wir damit, dass sich der Schwerpunkt vom Linefit zum Retrofit verschiebt.

Zukaufen? Das wäre möglich.

Wenn die Branche sich konsolidiert, können Sie als Branchenschwergewicht zukaufen.
Das wäre möglich. In der Vergangenheit haben wir in dieser Hinsicht wenig getan. Uns fehlt nichts im Portfolio, das wir dringend benötigen würden. Aber ich will nicht ausschließen, dass wir solche Schritte in Erwägung ziehen, wenn sich interessante Optionen ergeben.

Zu einem ganz anderen Wettbewerber: Boeing ist mit Adient Aerospace in die Sitzproduktion eingestiegen. Ist es nicht eine Gefahr für Sie, wenn Flugzeughersteller selber Sitze bauen?
Stelia ist eine Airbus-Tochter und stellt seit vielen Jahren Sitze her. Es gibt da für uns keinen grundlegenden Unterschied zu anderen Wettbewerbern. Außerdem sorgt Wettbewerb auch bei uns für Innovationen.

Kommt die nächste große Innovation beim Flugzeugsitz im Zuge der Corona-Krise?
Bestimmte Funktionalitäten wie Beschichtungen und Abschirmungen werden ein Stück weit an Bedeutung gewinnen. Aber wir gehen nicht von einer revolutionären Veränderung aus.

Separate Bereiche für Familien mit Kindern und Passagiere, die in Ruhe arbeiten wollen.

Und was sind die Herausforderungen abseits von Corona?
Neue Aufteilungen der Kabine. Es könnte separate Bereiche geben für Familien mit Kindern, für Passagiere, die in Ruhe arbeiten wollen, und für Reisende, die vor allem schlafen möchten. Es gibt ja bereits Studien zu Unterflur-Schlafräumen.

Was ist noch denkbar?
Die Frage der Flexibilität ist noch ungelöst. Es gibt heute Schmalrumpf-Flugzeuge, mit denen die Airlines nicht nur Kurz- und Mittel-, sondern auch Langstrecke fliegen können. Aber die Kabine bleibt dabei unverändert. Wie schaffen wir es, sie von Flug zu Flug konfigurierbar zu machen? Ein anderes Beispiel: In der Ferienzeit fliegen mehr Familien, und zwar genau in den Flugzeugen, in denen sonst Geschäftsreisende unterwegs sind. Da gibt es noch zu wenig Variationsmöglichkeiten. Ebenso in Sachen Auslastung: Ob ein Flieger ganz voll oder halb leer ist – die Kabine sieht gleich aus. Hier sehen wir großes Potenzial und haben auch schon erste Konzepte entwickelt.

Airbus hat mit einer Designfirma ein Economy-Sitz-Konzept entwickelt, bei dem die Temperatur des Sitzes und die Spannung der Lehne per App steuerbar ist oder sich sogar selber dem Reisenden anpasst. Was halten Sie davon?
Sehr viel. Wir haben bereits Sitze mit Sensoren ausgestattet, unseren iSeat, um besser zu verstehen, was wie genutzt wird. Und in der Business Class gibt es ja schon Dinge wie App-Steuerung, Massage, Heizung und Belüftung. Aber auch in der Economy Class wird ein guter Sitz mittel- oder langfristig seine Kopfstütze selbstständig für jeden Passagier einstellen oder per App einstellbar sein.

Und wir sehen nicht, dass wir fünf Kilo jemals unterschreiten werden.

Was Reisende kaum merken: Economy-Class-Sitze werden immer dünner und leichter. Manche Firmen bauen Sitze, die nur noch vier Kilo wiegen. Wie leicht werden Recaros Sitze in Zukunft?
Wir haben vor etwa zehn Jahren unserem Innovationsteam die Aufgabe gestellt, den leichtest möglichen Sitz zu entwickeln, ohne Rücksicht auf Kosten und manche Regeln. Da haben wir 5,6 Kilogramm erreicht. Zum damaligen Zeitpunkt wog unserer leichtester Sitz im Markt zehn Kilo, heute sind es acht Kilo. Und wir sehen nicht, dass wir fünf Kilo jemals unterschreiten werden unter Berücksichtigung von Komfort- und Qualitätsanforderungen.

Was ist beim Bau von Sitzen das Material der Zukunft? Titan?
Unsere Vorstellung von Leichtbau ist nicht ein Material, sondern ein Material-Mix. Dabei ist Titan interessant, aber auch Composite, faserverstärkte Kunststoffe und nach wie vor Aluminium. Es geht um die ideale Kombination dieser hochfesten und leichten Materialien.

Zurzeit finden sich Ihre Sitze vor allem in Fliegern von Airbus und Boeing. Aber China und Russland sind durchaus ambitioniert, selber neue Modelle auf den Markt zu bringen. Sehen Sie da einen Zukunftsmarkt?
Wir beliefern zukünftig auch Embraer im Line- und Retrofit, und Bombardier kann auch noch folgen. Mit Blick auf neue Hersteller, etwa aus Russland oder China, gilt: Langfristig halten wir diesen Markt absolut für bedeutsam. Aber in den nächsten Jahren werden 95 Prozent der Sitze weiterhin in Flugzeuge von Airbus und Boeing eingebaut werden.

* Mark Hiller, geboren 1972 in Stuttgart, leitet Recaro Aircraft Seating seit April 2012 als Geschäftsführer. Seit 2014 ist er zudem Gesellschafter des Unternehmens. Der promovierte Wirtschaftsingenieur arbeitet bereits seit 2003 für die Unternehmensgruppe.