Letzte Aktualisierung: um 21:14 Uhr

Interview mit Martin Gauss, Air Baltic

«Die große Insolvenzwelle wird erst später kommen»

Air-Baltic-Chef Martin Gauss spricht im Interview über die Folgen der Corona-Krise, offene Optionen für weitere Airbus A220 und die Zukunft des Wet-Lease-Geschäfts.

Eine solche Pandemie hatte wohl kein Chef einer Fluggesellschaft vorausgesehen. Sie traf die Branche urplötzlich. Wie erleben Sie die Krise persönlich?
Martin Gauss: Als ich 2011 zu Air Baltic kam, befand sich das Unternehmen in einer existenziellen Krise. Als erste Handlung musste ich Leute entlassen. Jetzt musste ich dasselbe leider wieder tun – es ist quasi eine Zurückversetzung um neun Jahre. Gerade darum aber konnten wir schnell reagieren und haben sofort einen Krisenstab aufgestellt und die Fluglinie heruntergefahren. Das hat sich ausgezahlt. Nach zwei Wochen Krisenmanagement konnten wir bereits beginnen, den Neustart vorzubereiten.

Und wo arbeiten Sie?
Unsere Betriebsleitzentrale, das Operations Control, arbeitet noch vor Ort, unser Callcenter arbeitet von Zuhause aus. Das Management kommt noch ins Büro und arbeitet mit räumlicher Trennung. Jeden Tag spreche ich per Videobotschaft zum Personal und ein Mal pro Woche beantworte ich live Fragen. Diese Transparenz ist gerade jetzt wichtig. Daneben spreche ich mit wichtigen Lieferanten und Kunden. Ich arbeite schon deutlich mehr als zuvor.

Und wie geht es jetzt weiter, wie wird sich die Luftfahrtbranche in den nächsten Monaten entwickeln?
Es ist gerade unglaublich schwierig, Prognosen zu machen. Die Lage verändert sich von Tag zu Tag, manchmal sogar stündlich. Zudem gibt es große regionale Unterschiede und Unterschiede von Land zu Land. Eine globale Vorhersage ist daher unmöglich. Ich kann nur sagen, was wir bei Air Baltic planen und für uns sind wir mittelfristig durchaus positiv gestimmt.

Wir werden die Flotte von Air Baltic von 38 auf 22 Flugzeuge schrumpfen.

Und was sind die Pläne von Air Baltic?
Wir hatten vor, in drei Jahren unsere zwölf Turboprops auszuflotten. Jetzt haben wir die Stilllegung vorgezogen und auf eine reine Airbus-A220-Flotte umgestellt. Ersetzt werden die Dash 8 nicht. Ebenso fallen die vier Boeing 737-300 weg. Alleine dadurch wird die Flotte von Air Baltic von 38 auf 22 Flugzeuge schrumpfen. Zu Beginn werden wir aber nur fünf Flieger einsetzen, danach geben wir jede Woche einen mehr hinzu. Von zwölf Zielen am Tag eins steigt das Angebot so bis Ende des Jahres auf 50 bis 60. Vor der Krise flogen wir 80 Destinationen an.

Wann ist dieser Tag eins, wenn es wieder geht?
Dann, wenn wir wieder fliegen können, wenn die Restriktionen aufgehoben werden. Dann starten wir auch. Wann das ist, weiß ich nicht. Air Baltic ist bereit. Wir glauben, dass es aber selbst dann nicht mehr sein wird wie vor der Corona-Krise.

Wie meinen Sie das?
Es könnte zum Beispiel sein – ähnlich wie mit neuen Vorschriften nach den Anschlägen vom 11. September – dass es neue Abläufe geben wird. Etwa, dass vor einem Abflug die Körpertemperatur von Passagieren gemessen werden muss oder sie Schnellchecks durchlaufen müssen. Allerdings müssten wir dann dafür auch entschädigt werden.

Und wie werden sich die Passagiere verhalten?
Sie werden sicher am Anfang noch zurückhaltend sein. Aber es hat sich auch ein großer Urlaubsbedarf aufgestaut. Denken Sie nur an all die Menschen im Gesundheitswesen, die jetzt so viel arbeiten müssen. Ich wünsche mir aber, dass den Passagieren dann auch vermehrt bewusst ist, dass Flüge etwas kosten. Wenn die Sicherheitsvorschriften steigen, wird Fliegern auch teurer.

Momentan brauchen wir kein zusätzliches Kapital.

Viele Fluggesellschaften brauchen Staatshilfe. Air Baltic auch?
Wir haben letztes Jahr eine Anleihe über 200 Millionen Euro ausgegeben. 100 Millionen waren als Finanzierung des Wachstums gedacht, 100 Millionen als Reserve für schwierige Zeiten. Das ist jetzt unerwartet schneller passiert als angenommen. Keiner hätte damals gedacht, dass diese schwierigen Zeiten so schnell kommen.

Also kein Geld vom Staat?
Der Staat ist seit jeher unser Aktionär. Momentan brauchen wir kein zusätzliches Kapital. Je länger die Krise dauert, müssten auch wir frisches Geld vom Aktionär bekommen.

Welche Art von Fluggesellschaften werden die Krise nicht überleben?
Interessanterweise sehen wir noch wenig Pleiten. Alle – ob privat oder staatlich – warten ab, beschaffen sich Kapital und hoffen, nach der Krise wieder besser als die Konkurrenz starten zu können. Die große Insolvenzwelle wird erst später kommen. Viele werden nach dem Neustart merken, dass es nicht mehr geht. Zudem werden wir Fusionen erleben, die vorher undenkbar gewesen wären.

Und könnte auch Air Baltic Teil einer solchen Fusion sein?
Wir hatten einen Börsengang geplant, um das weitere Wachstum im Baltikum finanzieren zu können. Natürlich muss man dafür eine klare Perspektive bieten können. Sonst machen die Investoren nicht mit. Jetzt ist sicher nicht der Zeitpunkt dafür. Unser Aktionär Staat hat aber keine Eile – er ist mit seiner Investition sehr gut gefahren. Wir tragen einerseits 3,1 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Lettlands bei und haben 2019 einen Betriebsgewinn von 124 Millionen erzielt. Wenn aber natürlich jemand mit einem Angebot auf unseren Aktionär zugeht, dann würde das sicher angeschaut.

Wir besitzen mit dem Airbus A220 das modernste Flugzeug.

Sie haben aber noch offene Bestellungen. Brauchen Sie die Flieger noch?
Wir rechneten vorher im Verlaufe von 2021 mit 50 Flugzeugen – dieses Ziel haben wir nun auf 2023 verschoben. Wir planen weiterhin, alle bestellten A220 abzunehmen.

Und was ist mit den 30 Optionen?
Wir besitzen mit dem Airbus A220 das modernste Flugzeug mit 145 Sitzen, das mit Fracht bis nach China fliegen kann. Das ist ein enormer Vorteil. Wir glauben daher, in einer starken Position zu sein. Wir können relativ günstig Kurz- und Langstrecke fliegen. Entschieden wird sicher nicht dieses Jahr. Ob wir sie einlösen, hängt auch davon ab, welche Aufgabe wir künftig haben werden. Wir halten die Optionen und warten erst einmal ab.

Sind die Triebwerksprobleme eigentlich gelöst?
Nach den Vorfällen bei Swiss mussten wir die Triebwerke unserer Airbus A220 überprüfen und durften nicht mehr ganz so hoch fliegen. Aber seither gab es ein Software-Update und jetzt läuft wieder alles ganz normal. Bei solchen neuen Motoren sind Kinderkrankheiten üblich.

Sie flogen letzten Sommer beispielsweise für Lufthansa. Wird es dieses Wet-Lease-Geschäft noch so geben?

Nein, diese Zeiten sind vorbei. Aber es könnte sein, dass Airlines ihre Airbus A320 stilllegen, weil sie jetzt zu groß sind und uns beauftragen, sie mit Airbus A220 zu bedienen. Das kann im Wet-Lease oder in einer Partnerschaft geschehen. Kleinere Flugzeuge sind am Anfang nach Ende der Krise wichtig – wenn das kleine Flugzeug auch noch lange Strecken kann, ist das perfekt. Wir sehen uns deshalb in einer sehr guten Ausgangslage.

Der Staat als Gesellschafter ist nicht per se schlecht.

Viele Fluggesellschaften werden wohl vom Staat übernommen, um sie zu retten – wie es bereits bei Alitalia angekündigt wurde. Gewinnt dadurch die Politik wieder mehr Einfluss auf die Airlines?
Der Staat als Gesellschafter ist nicht per se schlecht. Air Baltic ist damit sehr gut gefahren. Wir haben den Staat als Aktionär, werden aber privatwirtschaftlich geführt. Ich glaube, es ist in einer Krise sinnvoll, dass der Staat den Fluggesellschaften hilft, denn Flugverbindungen sind ein zentraler Teil der Infrastruktur eines Landes. Es ist eine Investition mit einer Rendite für ein Land. Wenn sich die Airline dann wieder gefangen hat, kann die Regierung sie auch wieder verkaufen und dabei erst noch Gewinn machen.

* Martin Gauss begann seine Luftfahrt-Karriere 1992 als Pilot einer Boeing 737 bei der British-Airways-Tochter Deutsche BA. Später stieg er dort in die Geschäftsführung auf. Nach der Integration von DBA in Air Berlin verließ Gauss das Unternehmen nach 15 Jahren. Er stieg bei der Cirrus Group ein und wurde dort Geschäftsführer. Zwischen April 2009 und Mai 2011 war Gauss Chef der ungarischen Fluggesellschaft Malev. Seit neun Jahren ist er nun bei Air Baltic Geschäftsführer.