In Sozialen Netzwerken echauffieren sich derzeit Leute über angebliche Pläne von Billigairlines, schon 2026 Stehsitze einzuführen. Auch Medien berichten. Doch: All das ist unrealistisch.
Im Jahr 2010 stellte der italienische Sitzhersteller Avio Interiors erstmals ein Konzept namens Skyrider vor. Es sieht aus wie eine Mischung aus normalem Flugzeugsitz, Barhocker und Pferdesattel. Da die Position der Person darauf höher ist, erhielt der Skyrider den Spitznamen Stehsitz. In den folgenden Jahren passte Avio Interiors das Design an, präsentierte es erneut und sorgte damit etwa 2018 für Presse-Überschriften wie «Kommen jetzt wirklich Stehplätze im Flugzeug?»
Aktuell sorgt der Skyrider erneut für Schlagzeilen. Die Bild-Zeitung zeigt ihn und schreibt dazu: «Auf Kurzstrecke: Fliegen wir bald alle im Stehen?» Das Schweizer Portal Nau titelt: «Billig-Airline soll bald Stehplätze anbieten». Das Portal Chip entscheidet sich für die Zeile: «Experten warnen vor Gefahr: Wer günstig reisen will, soll im Flugzeug künftig stehen.»Und die Webseite Euro Weekly News wählt die Überschrift: «Low-Cost Airlines to launch standing-only seats in 2026».
Der Grund: Ein Instagram-Account namens Entrepreneurshipquote mit 2,8 Millionen Followern zeigt den Skyrider und schreibt dazu: «In einem mutigen Schritt zur Senkung der Flugkosten werden mehrere Billigfluglinien ab 2026 Optionen mit ausschließlich Stehplätzen einführen. Nach ausführlichen Diskussionen erfüllt diese unkonventionelle Sitzanordnung nun endlich die gesetzlichen Anforderungen und hat die Sicherheitsbewertungen bestanden.»
Dass der Account weder einen Airline-Namen noch eine Quelle nennt, stört die meisten Follower nicht. Der erfolgreichste der rund 1300 Kommentare lautet: «Das ist erbärmlich. Behandelt Menschen wie Menschen. Mein Gott.» Dabei gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass das stimmt, was der Account schreibt. Keine Fluggesellschaft oder Behörde hat eine entsprechende Ankündigung gemacht - geschweige denn den Einsatz bei einer Behörde angemeldet.
Der für provokative Vorschläge bekannte Ryanair-Chef Michael O'Leary hatte vor langer Zeit - und unabhängig vom Skyrider-Sitz - angekündigt, Tests mit einer Boeing 737-800 mit Stehsitzen durchführen zu wollen. Anfang 2013 erklärte er dann, eine Luftfahrtbehörde, die er nicht genauer benannte, hätte solche Tests untersagt. Sein Ziel hatte er erreicht: Aufmerksamkeit für Ryanair.
Aber selbst wenn es Interesse von Fluggesellschaften gebe: Als Airline einen aktuell noch nicht zertifizierten Sitz für das kommende Jahr einzuplanen, ist unrealistisch. Nicht nur muss ein neuer Sitz generell grünes Licht von den Behörden erhalten, er muss auch für jedes Flugzeugmodell freigegeben werden - und anschließend produziert, ausgeliefert und eingebaut.
Selbst Modifikationen bestehender Sitze sind nicht schnell umzusetzen. So stattet etwa Lufthansa ihre Sitze im Airbus A380 aktuell mit neuen Bildschirmen aus. Recaro-Chef Mark Hiller erklärt kürzlich im Interview mit aeroTELEGRAPH, dass auch solch eine neue Kombination von Bildschirm und Sitz vorher zugelassen werden muss. «Das können schnell zwölf Monate werden», sagte Hiller zum Zeitaufwand solch einer Zulassung.
Ein anderes Beispiel: «Um ihre Endmontagelinie zu optimieren, hat Boeing bei der 787 ein neues Fitting gewählt, mit dem der Sitz am Boden befestigt wird», erzählte Hiller. «Dieses Fitting wird von einem einzigen Hersteller produziert - das müssen nun alle Sitzhersteller kaufen und ihre Sitze neu damit zulassen.» Und bei all dem geht es um etablierte Sitzkonzepte, nicht um eine komplett neue Idee, die sicherheitstechnisch ganz andere Fragen aufwirft, wie etwa die Idee eines Stehsitzes.
Und eine schnelle Zulassung ist nicht das einzige Problem. So kann ein Airbus A321 Neo beispielsweise maximal 244 Reisende aufnehmen. Stehsitze bringen daher gar nicht den gewünschten Effekt, nämlich eine noch höhere Dichte an Bord - ganz einfach, weil man gesetzlich gar nicht noch mehr Fluggäste transportieren darf. Zudem würden mehr Passagiere zwangsläufig mehr Kabinenpersonal erfordern - pro 50 Gäste braucht es ein Mitglied der Kabinenbesatzung. Das wiederum würde die Kosten wieder hochtreiben.
Und so hat sich mittlerweile auch der Skyrider-Erfinder Avio Interiors zu Wort gemeldet. «Erneut macht das Bild des Skyriders online die Runde und sorgt für Diskussionen und Neugier», so die Firma. Doch man möchte da etwas richtigstellen. «Der Skyrider, oft fälschlicherweise für einen fertigen, startklaren Flugzeugsitz gehalten, ist in Wirklichkeit ein Konzeptprototyp», so das Unternehmen.
«Entworfen als mutige Antwort auf eine der drängendsten Herausforderungen der Luftfahrtindustrie und unter Maximierung von Platz und Ergonomie, war er nie für bare Münze genommen», schreibt Avio Interiors. Vielmehr sei er eine provokante Designinnovation gewesen, um die Grenzen des Möglichen auszuloten.