Ein Gericht in Kanada hat ein Urteil gefällt über Entschädigungen für die Hinterbliebenen von Flug PS752 von Ukraine International Airlines. Doch in der Entscheidung, die bei Fluggesellschaften weltweit Beachtung finden dürfte, geht es um weit mehr als nur um Geld.
Am 8. Januar 2020 startete Flug PS752 von Ukraine International Airlines vom Imam Khomeini International Airport in Teheran. Wenige Minuten später wurde die Boeing 737 von zwei Boden-Luft-Raketen getroffen, abgefeuert von einer Luftabwehreinheit der iranischen Revolutionsgarde. Der Jet stürzte ab, alle 167 Fluggäste und 9 Crewmitglieder starben.
An Bord befanden sich viele Passagierinnen und Passagiere aus Kanada. Etliche weitere Fluggäste wollten in Kyiv, dem Ziel von Flug PS752, in Richtung Kanada umsteigen.
Und so gab es später Klagen von Hinterbliebenen in Kanada. Sie forderten Entschädigungen von Ukraine International Airlines, kurz UIA. Eine zentrale Frage dabei: Kann die Fluggesellschaft ausreichend glaubhaft nachweisen, dass sie nicht fahrlässig gehandelt hat, als sie Flug PS752 aus Teheran abheben ließ? Dann wäre ihre Haftung laut dem Montrealer Übereinkommen von 1999 auf rund 235.000 Kanadische Dollar (147.000 Euro) pro verstorbenem Reisenden begrenzt. Kann sie es nicht nachweisen, haftet sie unbegrenzt.
Im Juni 2024 urteilte eine Richterin des Ontario Superior Court of Justice gegen die Fluglinie. Sie erklärte in ihrem Urteil, dass «UIA nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisen konnte, dass sie nicht fahrlässig gehandelt hat, als sie PS752 den Abflug aus Teheran am 8. Januar 2020 erlaubte». Das bedeutet, dass die Airline unbegrenzt haften muss. UIA legte Berufung gegen das Urteil ein. Am 11. August 2025 hat das Berufungsgericht, der Ontario Court of Appeal, den Einspruch der ukrainischen Fluggesellschaft nun aber abgewiesen.
«Dies ist eine bahnbrechende Entscheidung in der Welt der Luftfahrt», kommentieren die Kanzleien Howie, Sacks & Henry und CFM Lawyers, welche die Familien von insgesamt 21 der Opfer vertreten. «In einer Zeit verschärfter Konflikte auf der ganzen Welt sendet das Urteil eine klare Botschaft an internationale Fluggesellschaften, dass offener Luftraum nicht als sicherer Luftraum angesehen werden kann.» Airlines müssten äußerste Vorsicht und Sorgfalt walten lassen, wenn sie in oder in der Nähe eines Konfliktgebiets operierten.
UIA hatte in der Berufung mehrere Argumente zu ihrer Sorgfaltspflicht angeführt. Unter anderem habe sie behauptet, «dass das Fluginformationsgebiet Teheran, in dem PS752 flog, kein Konfliktgebiet im Sinne der Icao 10084 war», so das Berufungsgericht im Urteil. Das Dokument 10084 der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation Icao enthält Leitlinien zur Risikobewertung für den Betrieb ziviler Flugzeuge über oder in der Nähe von Konfliktzonen.
Der Berufungsrichter erklärt dazu in seinem Urteil, dass er der ausführlichen Analyse im Urteil aus dem Juli 2024 zustimmt. Er zitiert daraus, dass die Argumentation von UIA «auf der Vorstellung zu beruhen scheint, dass ein Konfliktgebiet offiziell erklärt werden muss, um zu existieren». Dabei zeige die Analyse: «Am Morgen des 8. Januar 2020 war das Fluginformationsgebiet Teheran ein Paradebeispiel für ein Konfliktgebiet.»
«In den Stunden vor dem Start von PS752 feuerte der Iran über mehrere Stunden hinweg ballistische Raketen durch seinen Luftraum auf amerikanische Truppen im Irak ab, nachdem der damalige Präsident der Vereinigten Staaten gedroht hatte, für jeden Angriff als Reaktion auf die Tötung von General Soleimani 'SCHNELL UND HART' Vergeltung gegen den Iran zu üben», heißt es zum Hintergrund der Sicherheitslage am Tage des Abschusses.
Der Berufungsrichter hält schließlich fest: «Entgegen den Ausführungen von UIA handelte es sich beim Fluginformationsgebiet Teheran um ein Konfliktgebiet und Icao 10084 war anwendbar.» Bei dieser Einschätzung sei im Urteil von 2024 kein Fehler gemacht worden.
In der Kritik der Richterin und des Berufungsrichters steht besonders der stellvertretende Chef von UIA, der als Manager für die Sicherheit zuständig war, Petro Martynenko. Dieser sei bei der Informationsbeschaffung für die Risikobewertung fahrlässig vorgegangen. So habe er es versäumt, den Kommandanten von Flug PS752 zu konsultieren, der dadurch weder wichtige Informationen beisteuern noch erhalten konnte. Auch habe der Manager am Morgen niemanden im Flugbetrieb oder im UIA-Kontrollzentrum kontaktiert. Weiterhin habe er eine Notam - eine aktuelle Fluginformation - der amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA sowie eine öffentliche Risikoeinschätzung des Anbieters Osprey Flight Solutions nicht zurate gezogen.
Martynenko habe zudem Hauptrisikofaktoren nicht erkannt und fragwürdige Annahmen getroffen. «Es gab keine vernünftige Grundlage, auf der Herr Martynenko zu dem Schluss kommen konnte, dass der Iran keine weiteren Raketen abfeuern würde», heißt es im Urteil. Zudem habe der Manager angenommen, dass das iranische Militär über hochentwickelte Mittel verfügen würde, um nicht unbeabsichtigt ein kommerzielles Flugzeug anzugreifen, sowie dass das Militär an der Startfreigabe von Flug PS752 beteiligt sein würde.
Die Fluggesellschaft argumentierte in ihrer Berufung auch, das Gericht habe der Tatsache kein Gewicht beigemessen, dass auch etliche andere kommerzielle Flüge gestartet und gelandet seien. Der Berufungsrichter hält fest: «Zwischen dem Beginn des iranischen Angriffs mit ballistischen Raketen und dem Start der PS752 starteten acht Flugzeuge vom Flughafen IKI und 15 Flugzeuge landeten.» Einige Starts seien auf ähnlichen Flugrouten erfolgt wie der von PS752, bei anderen seien die Routen angepasst worden. Das ist die zeitliche Abfolge:
Gegen 2 Uhr: Iran beginnt Raketenangriffe auf US-Basen im Irak
02:34 Uhr und 03:36: Zwei im Urteil nicht genauer benannte Flüge starten am Imam Khomeini International Airport (IKI) in Teheran
03:37 Uhr: Die FAA erlässt eine Notam für Konfliktzonen, die in den USA registrierten Flugzeugen das Einfliegen in den iranischen Luftraum aufgrund verstärkter militärischer Aktivitäten untersagt
04:00 Uhr: UIA beginnt mit einer Sicherheitsbewertung
04:15 Uhr: Osprey Flight Solutions veröffentlicht über Twitter und per E-Mail-Abodienst die Warnung, dass die Risikobewertung des iranischen Luftraums auf «EXTREM» angehoben wurde, und stellt fest, dass der Iran «in der Vergangenheit keine ausreichende Ankündigung von Aktivitäten in seinem Luftraum herausgegeben hat, die die Flugsicherheit beeinträchtigen könnten». Osprey empfiehlt, Flüge zu verschieben und Crews zu informieren.
04:23 Uhr: Flug OS872 von Austrian Airlines startet am Imam Khomeini International Airport
04:32 Uhr: Flug SUI513 von Aeroflot startet
Gegen 5 Uhr: Osprey wiederholt die Warnung in einer zweiten Mitteilung
05:00 Uhr: Flug QR491 von Qatar Airways startet
05:07 Uhr: Flug TK873 von Turkish Airlines startet
05:17 Uhr: Flug KK1185 von Atlas Global startet
05:39 Uhr: Flug QR8408 von Qatar Airways startet
06:12 Uhr: Flug PS752 von Ukraine International startet. Wenige Minuten später wird das Flugzeug von zwei Boden-Luft-Raketen getroffen und stürzt ab
Die Richterin und der Berufungsrichter sehen in den Flügen anderer Fluggesellschaften aber kein Argument dafür, dass UIA ihre Sorgfaltspflichten für den eigenen Flug erfüllt hat. Denn Martynenko und sein Team hielten laut dem Urteil keine Rücksprache mit anderen Airlines und hatten daher keine Informationen darüber, wie die Sicherheitseinschätzungen und Maßnahmen dieser anderen Fluglinien waren und auf welchen Grundlagen sie beruhten.
Der Berufungsrichter betont zudem, dass Kanada eine eigene Untersuchung mit einem forensischen Team zu dem Abschuss und Absturz durchgeführt hat. Der Bericht dieses Teams habe ergeben, «dass der Iran die Flugabwehrsysteme in der Nähe des Flughafens IKI in Alarmbereitschaft versetzt hatte, ohne den Luftraum zu sperren oder die Airlines zu benachrichtigen». Der Bericht sei daher zu dem Schluss gekommen, «dass alle Flugzeuge, die von oder nach Teheran flogen, gefährdet waren, und nannte insbesondere die letzten vier Flüge, die vor Flug PS752 vom Flughafen IKI starteten, mit der Begründung, dass bei ihnen ein 'erhebliches Risiko' bestanden habe, falsch identifiziert zu werden.»